Die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts hat am 18. Dezember 2017 über die Zulässigkeit sogenannter nicht offenbarter Disclaimer und zur Anwendbarkeit des sogenannten „Gold Standard“ auf Patentansprüche enthaltend nicht offenbarte Disclaimer entschieden (G 1/16).
Dabei geht es um die Klärung von drei vorgelegten Rechtsfragen, die auf die Anwendbarkeit des allgemeinen Standards (Gold Standard) zur Prüfung der Zulässigkeit von Änderungen in Patentansprüchen nach Artikel 123 (2) EPÜ auf nicht offenbarte Disclaimer abzielen.
Disclaimer sind negative Merkmale im Anspruch, mit denen ein Teil der geschützten Lehre ausgenommen wird. Änderungen im Anspruch sind generell nur dann zulässig, wenn sie in den ursprünglichen Patentanmeldungsunterlagen offenbart, das heißt darin enthalten waren. Für nicht offenbarte Disclaimer gilt dies nicht, und eine frühere Entscheidung der Großen Beschwerdekammer (G1/03) hat drei Ausnahmesituationen definiert, in denen nicht offenbarte Disclaimer dennoch zulässig sein können.
In einer späteren Entscheidung (G2/10) hat die Große Beschwerdekammer dann für den anders gelagerten Fall offenbarter Disclaimer im Anspruch eine Zulässigkeitsprüfung gefordert, welche den allgemeinen (Gold) Standard auf den nach Einführung des offenbarten Disclaimers übrig bleibenden Rest anwendet. Nachfolgende Entscheidungen von Beschwerdekammern interpretierten dies zum Teil so, dass der übrig bleibende Anspruchsrest bei nicht offenbarten Disclaimern nun auch noch nach dem Gold Standard geprüft werden muss, obwohl dieser Test in G2/10 für eine grundsätzlich andere Konstellation etabliert wurde.
Die Große Beschwerdekammer des EPA stellte fest, dass:
„Zur Feststellung, ob ein Anspruch, der durch die Einführung eines nicht offenbarten Disclaimers geändert wurde, nach Artikel 123 (2) EPÜ zulässig ist, muss der Disclaimer eine der in Nummer 2.1 der Entscheidungsformel der Entscheidung G 1/03 genannten Kriterien erfüllen.“
Die Einführung eines solchen Disclaimers darf keinen technischen Beitrag zu dem in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbarten Gegenstand liefern. Insbesondere darf sie für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit oder für die Frage der ausreichenden Offenbarung nicht relevant sein oder werden. Ein Disclaimer darf nicht mehr als notwendig entfernen, um entweder die Neuheit herzustellen oder um einen von der Patentierbarkeit ausgeschlossenen Gegenstand aus nichttechnischen Gründen auszunehmen.“
Mit der Entscheidung G 1/16 hat die Große Beschwerdekammer das Verhältnis der früheren EPA-Entscheidungen zur Zulässigkeit nicht offenbarter Disclaimer (G 1/03) und zur Zulässigkeit von offenbarten Disclaimer (G 2/10) nun endgültig geklärt.
Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass für Ansprüche mit nicht offenbartem Disclaimer die Kriterien der Entscheidung G 1/03 ausschließlich zu prüfen sind, und der richtige Test für offenbarte Disclaimer der Gold-Standard-Test der Entscheidung G 2/10 ist, die beiden Situationen also unvereinbar sind.
Früheren Versuchen einiger Beschwerdekammern, den im Anspruch verbleibenden Gegenstand bei nicht offenbarten Disclaimern nach den Regeln der Entscheidung G 2/10 dem Gold-Standard-Test zu unterziehen und diesen auf die rechtlich andere Ausgangslage anzupassen, wurde damit eine klare Absage erteilt.
Die Entscheidung G 1/16 wird nun als Leitfaden für einen einheitlichen Ansatz bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Patentansprüchen mit nicht offenbarten Disclaimern dienen. Sie wird die bestehende Unsicherheit bei der Behandlung solcher Fälle vor den Prüfungs- und Einspruchsabteilungen des EPA und der Beschwerdekammern beseitigen.
In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Verfahren vertrat die Kanzlei Maiwald die Patentinhaber, die Princeton University und die University of Southern California. Dem Team unter Federführung von Dr. Norbert Hansen gehörten Dr. Stefanie Parchmann, Dr. Nils Braun und Alexander Ortlieb an.