T 1450/16 (Acoustic port of a hearing device/SHURE) Entscheidung vom 17.1.2020
Um erfinderische Tätigkeit gemäß Artikel 56 EPÜ festzustellen, wird in der Praxis oft der sogenannte Aufgabe-Lösungs-Ansatz verwendet, was aber häufig zu Diskussionen über dessen korrekte Anwendung führt.
Zu Beginn dieses mehrstufigen Prozesses wird ein Dokument zum „nächstliegenden Stand der Technik“ bestimmt. Dieses Dokument wird dann als Grundlage für die Beurteilung der Erfindungshöhe herangezogen.
Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Patentanmeldung für in-ear Kopfhörer. Die Beschwerdekammer hat ein Dokument D1 aus dem Jahre 1968 zum nächstliegenden Stand der Technik bestimmt, in dem es um ein Hörgerät geht.
Laut dem Anmelder müsse der nächstliegende Stand der Technik nach den folgenden Kriterien ausgewählt werden:
- Der nächstliegende Stand der Technik sollte zum gleichen technischen Fachgebiet wie die Anmeldung gehören.
- Der nächstliegende Stand der Technik sollte die gleiche objektive technische Aufgabe betreffen wie die Anmeldung.
- Die Anmeldung sollte mehr Merkmale mit dem nächstliegenden Stand der Technik gemeinsam haben als mit anderen Dokumenten.
In Bezug auf diese Kriterien schloss der Anmelder, dass der Fachmann D1 nicht als nächstliegenden Stand der Technik ausgewählt hätte.
Die Kammer ist jedoch nicht der Ansicht, dass der Fachmann den nächstliegenden Stand der Technik aussuchen sollte. Dies würde bedeuten, dass „dieselbe (fiktive) Person, die bereits den bevorzugten nächstliegenden Stand der Technik ausgewählt hatte, danach auch testen würde, wie naheliegend der Gegenstand des Anspruchs ausgehend von diesem Stand der Technik ist“. Dadurch würde der Aufgabe-Lösungs-Ansatz an Objektivität verlieren.
Der Fachmann sollte, laut der Kammer, erst zu dem Zeitpunkt in den Aufgabe-Lösungs-Ansatz einsteigen, wenn die objektive technische Aufgabe formuliert wurde. Die Kammer kommt daher zu folgendem Schluss:
„Es muss das jeweilige Entscheidungsgremium sein – sei es die Prüfungsabteilung, die Einspruchsabteilung oder die zuständige Beschwerdekammer – das den nächstliegenden Stand der Technik auswählt, und nicht der in Artikel 56 EPÜ genannte Fachmann“.
Basierend auf dem von der Kammer gewählten nächstliegenden Standes der Technik war keiner der vorgelegten Anträge nach Artikel 56 EPÜ zulässig, und die Beschwerde wurde zurückgewiesen.